»Sei wach!«

»Sei wach!« Krishnajis letzter Vortrag »On Flowering« (»Über das Aufblühen«) ist wahrscheinlich die mutigste und revolutionärste Rede, die je über Erziehung gehalten wurde.
»Kann Frustration >aufblühen<?«, fragte er. »Wie muß man fragen, damit Frustration sich entfaltet, zur vollen Blüte gelangt? Nur wenn einem Gedanken gestattet wird, sich voll zu entfalten, kann er sich auf natürliche Weise auflösen. Wie eine Blume im Garten muß der Gedanke blühen können, muß Frucht tragen und dann sterben. Und so, wie man den Gedanken erlauben muß, sich zu entfalten, so muß man ihnen auch gestatten, zu sterben. Die richtige Frage lautet: >Ist es möglich, der Frustration soviel Raum zu geben, daß sie aufblühen und verwelken kann?<«
Ein Lehrer fragte, was er mit »Aufblühen« meine. Krishnamurti antwortete: »Schau in den Garten, betrachte dir die Blumen dort! Sie blühen, und nach ein paar Tagen welken sie dahin, das ist ganz natürlich. Und ich sage, man muß auch der Frustration die Freiheit geben, vollständig aufzublühen. Deine Frage war doch: >Gibt es eine Selbstreinigungskraft, einen Antrieb, sich selbst zu reinigen und gesund zu erhalten?< Diese Kraft, diese Flamme, kann nur wirken, wenn wir allem die Freiheit lassen, aufzublühen, sich zu entfalten – dem Hässlichen, dem Schönen, dem Bösen, dem Guten, dem Dummen –, damit auch nicht das Geringste unterdrückt wird, damit nichts unter der Oberfläche verborgen bleibt, sondern alles ans Licht geholt und verbrannt wird. Und das kann nur geschehen, wenn ich Frustration, Unglücklichsein, Trauer, Konflikt, Dummheit und Stumpfheit wirklich untersuche. Wenn ich mich nur rational mit diesen Zuständen auseinandersetze, werde ich niemals wissen, was sie wirklich bedeuten.«
Die Lehrer verstanden ihn nicht und stellten weitere Fragen. »Seht ihr«, erwiderte er, »für euch ist dieses >Aufblühen< nur eine Vorstellung. Der Verstand kümmert sich stets nur um die Symptome, nie um das Wesentliche. Er hat nicht die Freiheit, es wirklich herauszufinden. Er tut genau das, was für ihn charakteristisch ist, indem er sich sagt: >Es ist eine gute Idee, ich werde darüber nachdenken<, und so ist er verloren, denn er beschäftigt sich nur mit der Vorstellung, nicht mit dem Realen. Er sagt sich nicht: >Laß es aufblühen und sieh was geschieht.< Dann würde er es wirklich herausfinden, aber er sagt: >Es ist eine gute Idee; ich muß die Idee untersuchen.< « Krishnaji sagte zu den Lehrern: »Die meisten Menschen bleiben im Unwesentlichen, in den kleinen Dingen gefangen.« Dann fragte er: »Kann ich das Symptom sehen, es bis zu seiner Ursache zurückverfolgen und die Ursache sich entfalten lassen? Aber ich will, daß es sich in eine bestimmte Richtung entwickelt, was bedeutet: Ich habe eine Vorstellung davon, auf welche Weise es sich entfalten soll. Können wir das noch ein wenig weiter verfolgen? Kann ich sehen, daß ich die Ursache am Aufblühen hindere, weil ich Angst habe, weil ich nicht weiß, was geschehen wird, wenn ich zum Beispiel meiner Frustration erlaube, aus dem Unbewußten aufzusteigen und Raum einzunehmen? Kann ich mir anschauen, wovor ich Angst habe? Ich kann sehen, daß kein Aufblühen stattfinden kann, solange die Angst da ist. Also muß ich mich zuerst mit der Angst auseinandersetzen. Nicht, indem ich mich mit meiner Vorstellung davon beschäftige, sondern, indem ich mich mit ihr als Tatsache auseinandersetze. Kann ich also der Angst erlauben, aufzublühen?
All das erfordert ein hohes Maß an innerer Achtsamkeit. Der Angst erlauben, aufzublühen – weißt du, was das bedeutet? Kann ich allem erlauben aufzublühen? Das heißt nicht, daß ich jemanden umbringen oder ausrauben werde –, aber kann ich einfach das, >was ist<, aufsteigen und sich entfalten lassen?«
Als er sah, daß sie ihn noch immer nicht verstanden, fragte er: »Habt ihr schon einmal eine Pflanze gezogen? Wie macht man das?«
Ein Lehrer antwortete: »Man bereitet den Boden vor, düngt ihn...«
Krishnaji fuhr fort: »Benutze den richtigen Dünger und die richtige Saat, bringe sie zur rechten Zeit in die Erde, kümmere dich um den Schößling, achte darauf, daß nichts ihn zerstört, und gib ihm dann die Freiheit zu wachsen. Warum tust du nicht das gleiche mit – Eifersucht? Das Aufblühen der Gefühle ist nach außen nicht sichtbar wie eine Pflanze, aber es ist noch viel realer als die Pflanze, die du draußen auf dem Feld pflanzt. Weißt du, was Eifersucht ist? Sagst du in dem Moment, in dem du eifersüchtig bist, es ist nur Einbildung? Sie brennt in dir wie ein Höllenfeuer, nicht wahr? Du bist wütend, voller Zorn, warum schaust du es dir nicht an? Nicht rational, nicht als Vorstellung, sondern wirklich. Kannst du das Gefühl aufsteigen lassen, es anschauen und sehen, wie es wächst? So daß jedes Aufblühen zu seiner eigenen Zerstörung führt und deshalb am Ende kein >Ich< übrig ist, das fragen kann, wer die Zerstörung beobachtet? Darin liegt wahre Kreativität.«

Die Lehrer fragten noch einmal: »Wenn die Blume aufblüht, entfaltet und enthüllt sie sich selbst. Was genau meinen Sie, wenn Sie sagen: >Wenn Eifersucht aufblüht, wird sie sich selbst zerstören<?« Krishnamurti erwiderte: »Nehmt eine Knospe, eine Knospe, die an einem Busch wächst. Wenn man sie abknickt, wird sie niemals blühen, sondern schnell absterben. Wenn man sie aber aufblühen läßt, zeigt sie ihre Farbe, ihre feinen Blätter, den Pollenstaub. Sie zeigt uns ihr wahres Gesicht, ohne daß uns jemand sagen muß, sie ist rot, sie ist blau, es ist Pollenstaub. Sie ist da, damit wir sie anschauen können. Wenn ihr eure Eifersucht auf die gleiche Weise aufblühen laßt, dann zeigt sie euch, was sie in Wirklichkeit ist – nämlich Neid, Abhängigkeit, Verhaftung. Wenn man die Eifersucht also aufblühen läßt, dann zeigt sie all ihre Farben, alles, was dahintersteckt. Zu sagen, Abhängigkeit ist die Ursache von Eifersucht, ist reines Verbalisieren, aber wenn man der Eifersucht erlaubt, aufzublühen, wird die Tatsache, daß du von etwas abhängig bist, verhaftet bist, zu einer spürbaren Realität, einer emotionalen Realität, nicht zu einer intellektuellen, rationalen Vorstellung. Und so enthüllt jedes Aufblühen die Dinge, die du bisher noch nicht entdeckt hattest, und während jede dieser emotionalen Realitäten sich enthüllt, blüht sie auf, und du kannst dich damit auseinandersetzen. Du läßt sie einfach aufblühen, und sie öffnen andere Türen, bis du dich mit allen auseinandergesetzt hast, und dann verschwinden auch die Ursachen und die Motive.«

Krishnaji sah den Ausdruck auf den Gesichtern der Lehrer und sagte: »Schon im Akt eures Zuhörens beginnt das Aufblühen.«

Aus: Krishnamurti - Ein Leben in Freiheit S.241 ff.

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