Warum engagieren wir uns für die Gemeinschaftsbildung?



1978 bin ich in meine erste Lebensgemeinschaft gezogen und seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen, ist es zu meinem Lebensthema geworden. Wir haben damals das Forum entwickelt, das in den deutschen Lebensgemeinschaften zurzeit die gebräuchlichste Form ist sich miteinander auseinander zu setzen und am Gemeinschaftsgeist zu arbeiten. Besonders diese erste Gemeinschaft, in der ich 5 Jahre gelebt habe, aber auch die nachfolgenden waren sehr intensiv, erreichten diese besondere Tiefe aber meist durch eine dominante und charismatische Führungsperson mit den damit verbundenen Nachteilen, von mehr oder weniger starken ideologischen bzw sektenähnlichen Strukturen. Da das Forum eine Leitung benötigt, und es aus meiner Sicht auch etwas braucht, was ruhiger ist, wo man genauer hinschauen kann und wo die Stille, die ein wichtiger Katalysator sein kann, besser integriert ist, habe ich mich auf die Suche gemacht.  
   Durch „Zufall” habe ich von der Gemeinschaftsbildung (community building) in dem Buch „Wirtschaft Wozu” des Schweizer Unternehmers Hans Jaecklin gelesen und bin nach Amerika gefahren um Workshops zu besuchen. Seitdem bin ich fast Vollzeit mit dem Organisieren und Begleiten von gemeinschaftsbildenden Workshops beschäftigt. Unser erstes Seminar in Deutschland fand an dem Wochenende im September 2005 statt, an dem Scott Peck in Amerika beerdigt wurde. Vielleicht hatte dies eine symbolische Bedeutung und das „alte Europa” ist ein neuer und andere Art von Nährboden für die Gemeinschaftsbildung - es sieht jedenfalls sehr danach aus.
   Dieser Workshoprahmen ist einfach, aber sehr wirkungsvoll. Letzten Endes geht es darum, dass eine Gruppe lernt, wie man auch ohne Leitung in die Tiefe, ins gemeinsame Herz, in die Authentizität findet. In den Workshops gibt es ein Begleitungsteam, das nur eingreift, wenn eine Gruppe irgendwo stecken bleibt, es ist also keine Leitung im herkömmlichen Sinn. Nach einem zweitägigen gemeinschaftsbildenden Seminar ist eine Gruppe in der Lage den Prozess ohne Begleitung weiterzuführen, jeder Teilnehmer ist dann für die Leitung verantwortlich, Scott Peck benutzt dafür den Begriff einer „group of all leaders”.
   Manchmal denke ich, die Gemeinschaftsbildung ist wie eine Ausnüchterungskur für das menschliche Verhalten. Stück für Stück befreit sich eine Gruppe von Ihrem normalen Sozialisationsverhalten, fällt alles ab, was unecht ist. Ohne dass eine Gruppe dahingehend gelenkt werden muss, wird sie an die Gefühle herangeführt, vor denen im normalen Verhalten meist abgelenkt wird. Es ist befreiend, sich nicht verstellen zu müssen, um irgendwelchen Konventionen zu genügen. Man kann sich auf das konzentrieren, was gerade da ist, auf das Jetzt, ohne in irgendeiner Form durch ein Du-sollst oder Du-musst abgelenkt zu werden. Auf diese Art kommt eine Gruppe sehr schnell durch diese vier Phasen zu immer mehr Tiefe und Authentizität. Der Prozess wird bestimmt durch die Bereitschaft der Teilnehmer sich zu öffnen und sich dem zu stellen, was auftaucht, jeder entscheidet selber, wie viel er sich zumuten möchte. 
David Bohm, einer der wichtigsten Schüler von Krishnamurti, einem der großen spirituellen Lehrer unserer Zeit, hat zu einem ungefähr zum gleichen Zeitpunkt wie Scott Peck die Gemeinschaftsbildung einen ähnlichen Rahmen entwickelt, den er Dialog nennt und in dem gleichnamigen Buch „Der Dialog” beschreibt. Er sagt, dass wir Menschen wieder etwas lernen müssen, was wir bereits seit einer Million Jahre gemacht haben, was aber in den letzten 5.000 Jahren nicht mehr existiert hat: in einer authentischen Art und Weise in einer Gruppe zusammen zu sein. Die Stammesmenschen würden wahrscheinlich ihren Kopf schütteln, wie wir heutzutage meistens in einer Gruppe von Menschen kommunizieren. Die ca 5.000 jährige Phase der Ackerbaugesellschaft hat sich tief in unsere Köpfe und Verhalten eingeprägt und es wird eine längere Zeit dauern bis sich die durch die Industrialisierung aufgebrochenen Strukturen zu einer neuen Kultur entwickelt haben, die auch das tiefe und nährende Zusammensein in Gruppen einschließt. 
   Es geht darum, wieder zu lernen, auch auf der verbalen Ebene in einer authentischen Art und Weise zusammen zu sein, wo nicht nur der Kopf regiert und die Gefühle unter dem Tisch ihr Dasein fristen müssen. David Bohm spricht von Soziotherapie, also keiner individuellen Therapie, in der man die Sozialisations- und Konditionierungsmuster bewusst macht und aufarbeiten kann. Wobei es letzten Endes nicht um Therapie geht, gemäß dem Motto: Dort wo keine Therapie oder Heilung versucht wird, kann am besten Heilung stattfinden.
   Das so genannte Vier-Schichten-Persönlichkeitsmodell wird heutzutage an vielen Stellen gelehrt. Die Ursprünge stammen von der Darstellung des Muskel- und Charakterpanzers von Wilhelm Reich und wurde dann wahrscheinlich von Samuel Widmer zu der jetzigen Form weiter entwickelt. Es besteht aus der äußeren Anpassungsschicht, den abwehrenden Gefühlen (Hass, Trotz, Eifersucht, Gier, Neid), den abgewehrten Gefühlen (Trauer, Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit, Nichtverstandensein) und dem inneren Kern, dem Selbst. Dieses Modell korrespondiert sehr gut mit den vier Phasen der Gemeinschaftsbildung (Pseudo, Chaos, Leere und Authentizität), da diese verschiedenen Schichten beziehungsweise Phasen direkt miteinander im Zusammenhang stehen. Das Pseudo entspricht der Anpassung, das Chaos der Abwehr, die Phase der Leere oder Entleerung korrespondiert mit den Gefühlen, die auftauchen, wenn die Abwehr durchschritten oder aufgehoben wird, also den abgewehrten Gefühlen. Das Selbst, den Kern kann man mit Authentizität gleichsetzen.
Im persönlichen Wachstumsprozess geht es darum, sich durch diese verschiedenen Schichten zu arbeiten, um wirklichen Kontakt zu dem eigenen inneren Gefühlsleben zu finden und authentisch im Leben sein zu können. Natürlich gibt es Situationen, in denen es richtig ist, auf der Ebene von Pseudo und Anpassung zu reagieren, aber im allgemeinen geht es darum, für den anderen wirklich offen zu sein, in der Verletzlichkeit zu bleiben (3. oder 4. Phase/Schicht), nicht mit Abwehr (2. Phase/Schicht) zu reagieren, auch wenn man angegriffen wird. Wenn man es schafft, relativ stabil in diesem Zustand der Verletzlichkeit oder Authentizität zu bleiben, ist der Energiefluss offen, ist man mit dem Leben und sich selbst in Kontakt. Bei der Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck (und bei jedem anderen guten Seminar oder Gruppenprozess, sei er verbal oder nonverbal) durchlaufen die Mitglieder gleichzeitig als Gruppe wie auch individuell diese verschiedenen Schichten beziehungsweise Phasen. Die Gruppe unterstützt den Einzelnen, tiefer in diese „Zwiebel” zu gelangen, als er es aus eigener Kraft schaffen würde. Dieser Prozess läuft bei der Gemeinschaftsbildung relativ bewusst ab, das heißt, man bekommt die Gelegenheit, sich selber und sein Verhalten im Verlauf dieser verschiedenen Schichten zu studieren beziehungsweise zu erleben. Dies ist der generelle Vorteil bei verbalen Prozessen gegenüber nonverbalen, dafür beinhaltet die Sprache die größere Gefahr zu intellektualisieren und von den Gefühlen wegzugehen. Deswegen ist der gemeinschaftsbildende Prozess nach Scott Peck auch so nützlich, weil es auch sehr stark um diese Flucht vor den Gefühlen in unserer Verwendung der Sprache geht. Darin wird jedes einzelne Mitglied gefordert, weil diese Aufgabe nicht von einer Leitung abgenommen wird. So lernt jeder, wann er eingreifen muss, wann es ihm zu kopflastig oder langweilig wird.
   Unser Anliegen ist es deshalb nicht nur, gemeinschaftsbildende Workshops durchzuführen, sondern in erster Linie Lebensgemeinschaften und alle Art von Gruppierungen darin zu unterstützen, in ein authentisches Zusammensein zu finden.
   In dem Buch „creating community anywhere” von Shaffer/Anundsen mit einem Vorwort von Scott Peck wird beschrieben, wie man überall authentische Begegnungen schaffen kann, sei es in kleinen oder großen Gruppen oder auch Zweierbegegnungen, wo die Gemeinschaftsbildung sehr viel Ähnlichkeit bekommt mit den Zwiegesprächen von Lukas Möller. Das einzige was es braucht ist eine gewisse Regelmäßigkeit von Treffen (nicht weiter als 14 Tage auseinander liegend, auch ein Urlaub eignet sich hervorragend, wo z. Bsp. tägliche Gespräche möglich sind) und einer Bereitschaft sich mit den Empfehlungen der Kommunikation in einer Gruppe von Scott Peck (siehe Anhang) und den vier Phasen zur Authentizität auseinander zu setzen und das Interesse zu erforschen, wie man in eine tiefe Begegnung gelangt. Mir persönlich hat es sehr viel Lebensqualität und Freundschaft in mein Leben gebracht.

Hamburg, August 07

Götz Brase


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