Manchmal denke ich, die Gemeinschaftsbildung ist wie eine Ausnüchterungskur, Stück für Stück befreit sich eine Gruppe von Ihrem normalen Sozialisationsverhalten, fällt alles ab, was unecht ist. Ohne dass eine Gruppe sehr stark dahin gehend gelenkt werden muss, wird sie an die Gefühle herangeführt, vor denen im normalen Verhalten meist abgelenkt wird. Es ist befreiend, sich nicht verstellen zu müssen um irgendwelchen Konventionen zu genügen. Man kann sich auf das konzentrieren, was einem wichtig ist, was gerade da ist, auf das jetzt - ohne in irgendeiner Form durch ein Du solltest oder Du musst abgelenkt zu werden. Auf diese Art kommt eine Gruppe durch diese 4 Phasen zu immer mehr Tiefe und Authentizität. Der Prozess wird bestimmt durch die Bereitschaft der Teilnehmer sich zu öffnen und sich dem zu stellen, was auftaucht, jeder entscheidet selber wie viel er sich zumuten möchte.
David Bohm, eine der wichtigsten Schüler von dem großen spirituellen Lehrer Krishnamurti hat zu dem gleichen Zeitpunkt wie Scott Peck die Gemeinschaftsbildung, einen sehr ähnlichen Rahmen entwickelt, den er den Dialog nennt und in dem gleichnamigen Buch beschreibt. Er sagt, dass wir Menschen wieder etwas lernen müssen, was wir bereits 1 Million Jahre gemacht haben, aber in den letzten 5.000 Jahren nicht mehr existiert hat: in einer authentischen Art und Weise in einer Gruppe zusammen zu sein. Die Stammesmenschen würden wahrscheinlich ihren Kopf schütteln, darüber wie wir meist in einer Gruppe von Menschen kommunizieren. Es geht darum wieder zu lernen, auch auf der verbalen Ebene in einer tiefen und nährenden Art und Weise zusammen zu sein, wo nicht der Kopf regiert und die Gefühle unter dem Tisch ihr Dasein fristen müssen. David Bohm spricht von Soziotherapie, also keine individuelle Therapie, sondern wie man die Sozialisations- und Konditionierungsmuster bewusst macht. Wobei es letzten Endes nicht um Therapie geht, gemäß dem Motto: Dort wo keine Therapie oder Heilung versucht wird, kann am besten Heilung stattfinden.
Das Vier-Schichten-Persönlichkeitsmodell korrespondiert sehr stark mit den 4 Phasen der Gemeinschaftsbildung (Pseudo, Chaos, Leere und Authentizität). Es wird heutzutage an vielen Stellen gelehrt und stammt ursprünglich von Wilhelm Reich (der Charakterpanzer). Es besteht aus der äußeren Anpassungsschicht, den abwehrenden Gefühlen (Hass, Trotz, Eifersucht, Gier, Neid), den abgewehrten Gefühlen (Trauer, Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit, Nichtverstandensein) und dem inneren Kern, dem Selbst. Dieses Modell korrespondiert sehr gut mit den vier Phasen der Gemeinschaftsbildung, da diese verschiedenen Schichten bzw. Phasen direkt miteinander im Zusammenhang stehen. Die Anpassung entspricht dem Pseudo, das Chaos der Abwehr, die Phase der Leere oder Entleerung korrespondiert mit der Verletzlichkeit, den Gefühlen, die auftauchen, wenn die Abwehr durchschritten oder aufgehoben wird, dem Schmerz, der Trauer, der Einsamkeit etc. Das Selbst, der Kern, kann man mit Authentizität gleichsetzen.
In dem persönlichen Wachstumsprozess geht es darum, sich durch diese verschiedenen Schichten zu arbeiten, um wirklichen Kontakt zu dem eigenen inneren Gefühlsleben zu finden und authentisch im Leben sein zu können. Natürlich gibt es Situationen, wo es richtig ist, auf der Ebene von Pseudo und Anpassung zu reagieren, aber im allgemeinen geht es darum, für den anderen wirklich offen zu sein, in der Verletzlichkeit zu bleiben (3. oder 4.Phase/Schicht), nicht mit Abwehr zu reagieren, auch wenn man angegriffen wird. Wenn man es schafft, relativ stabil in diesem Zustand der Verletzlichkeit oder Authentizität zu bleiben, ist der Energiefluss offen, ist man mit dem Leben und sich selbst in Kontakt. Bei der Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck (und bei jedem anderen guten Seminar oder Gruppenprozess, sei es verbal oder nonverbal) durchlaufen die Mitglieder gleichzeitig als Gruppe als auch individuell diese verschiedenen Schichten bzw. Phasen. Die Gruppe unterstützt den Einzelnen, tiefer in diese „Zwiebel” zu gelangen als er es aus eigener Kraft schaffen würde. Dieser Prozess läuft bei der Gemeinschaftsbildung relativ bewusst ab, das heißt, man bekommt die Gelegenheit, sich selber und sein Verhalten im Verlauf dieser verschiedenen Schichten zu studieren bzw. zu erleben. Dies ist der generelle Vorteil bei verbalen Prozessen gegenüber den Nonverbalen, dafür beinhaltet die Sprache die größere Gefahr zu intellektualisieren und von den Gefühlen wegzugehen. Deswegen ist der gemeinschaftsbildende Prozess nach Scott Peck auch so nützlich, weil es auch sehr stark um diese Flucht vor den Gefühlen in unserer Verwendung der Sprache geht. Darin wird jedes einzelne Mitglied gefordert, weil diese Aufgabe nicht von der Leitung abgenommen wird. So lernt jeder, wann er eingreifen muss, wann es ihm zu kopflastig oder langweilig wird.
Die Phase Chaos hat viel mit Kritik zu tun. Das gegenseitige Feedback ist sehr wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung, gibt einem die Möglichkeit, Verdrängungen aufzuheben und blinde Flecken anzuschauen. Bei dem gemeinschaftsbildenden Prozess kann man üben, wann es richtig ist, den anderen zu kritisieren bzw. es nur ein Versuch darstellt, von den eigenen Dingen abzulenken, sich dem anderen überlegen zu fühlen, seine eigenen Themen auf den anderen zu projizieren. Es heißt bei der Gemeinschaftsbildung, es geht nicht darum, den anderen zu therapieren, zu überzeugen oder zu heilen. In der Phase des Chaos findet aber meist genau das statt. Wenn die Gruppe aber dranbleibt, also nicht auf Grund der entstehenden Spannungen und Konflikte auseinander fällt, kommt sie in die tiefere Phase der Entleerung und Verletzlichkeit. In dieser Schicht wird nur noch aus dem eigenen Gefühl heraus kritisiert, wenn man selber ein zu großes Problem hat, was man nicht mehr alleine lösen kann und auf die Korrektur der anderen angewiesen ist. Wenn man sich verletzt fühlt, schlägt man nicht einfach zurück, sondern formuliert die eigenen Gefühle des Schmerzes und gibt auf diese Art ein Feedback. Das kann von dem anderen ganz anderes angenommen werden, es ist viel einfacher, sich auch zu öffnen, den Fehler zuzugeben oder einfach den Schmerz des anderen, den man ausgelöst hat, mitzufühlen.
Ein entscheidender Faktor bei der Gemeinschaftsbildung ist die Stille. Normalerweise wird diese sehr schnell als unangenehm in einer Gruppe empfunden, als Ausdruck, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wenn aber von vorn herein die normalen Regeln der Sozialisation aufgehoben werden, es niemanden vorgeschrieben wird wie er sich verhalten soll, entsteht relativ schnell erst mal Stille. Bei der Gemeinschaftsbildung wird diese als normal akzeptiert, manchmal ist sie drückend, manchmal sehr angenehm. Es kann in Ruhe gewartet werden, bis neue Impulse auftauchen. Oft ist dieses Schweigen sehr wichtig, braucht es seine Zeit, damit etwas entstehen, ausgebrütet werden kann. Diese Stille wird oft als Wandlungsprozess erlebt.
Ein weiterer sehr wichtiger Punkt bei der Gemeinschaftsbildung ist die Empfehlung, nur zu reden, wenn man bei sich einen Impuls dafür wahrnimmt. Wenn die Mitglieder dieses gut beherzigen, kann der Große Geist, die Universelle Energie, das Geistige Universum, das Unbewusste oder wie man es sonst nennen mag, Regie führen. Das ist eigentlich der wichtigste Teil der Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck, auf diese Art funktioniert diese „Group of all leaders” und erreicht eine ähnliche bzw mehr Tiefe, als wenn es einen Leiter geben würde. Diese zentrale Empfehlung fordert den einzelnen Teilnehmer, es ist gleichzeitig für jeden eine wichtige Auseinandersetzung mit sich selbst. Spüre ich einen wirklichen Impuls, möchte ich mich nur wichtig machen, reagiere ich nur auf den anderen, ohne es wirklich bei mir sacken zu lassen? Muss ich dem anderen ein Feedback geben, weil es offensichtlich ist, dass er nicht aufgrund eines wirklichen Impulses redet und es mich zu sehr stört? Auch bei so einem Feedback oder Kritik geht es darum, nach innen zu horchen, ob es bei mir wirklich einen Impuls gibt, diese Aussage zu machen. Wenn die Beiträge zu schnell hintereinander kommen, man also das Gefühl hat, das man sehr schnell sein muss, um überhaupt einen Beitrag geben zu können, ist dies meist ein deutliches Zeichen, dass diese Empfehlung, nur zu reden, wenn man den Impuls dafür spürt, nicht in der Gruppe angewendet wird. Das wird dann wahrscheinlich von der Begleitung nach einer gewissen Zeit angesprochen, wenn es innerhalb eines Workshops geschieht. Bei einer Gruppe ohne Leitung, die in diesem Punkt bereits Übung hat, wird es von Mitgliedern der Gruppe angesprochen. Da jeder für den Erfolg seiner Teilnahme an der Gruppe selber verantwortlich ist, hat jeder die Aufgabe, anzusprechen, wenn für ihn etwas nicht stimmt. Auch hier gilt wieder das Gesetz des Impulses.
Ist die Suche nach authentischer Begegnung und Gemeinschaft nicht etwas sehr zentrales in unserem Leben, vielleicht sogar einer der wichtigsten Impulse unseres Zeitgeistes? Was wird wichtig, wenn die materielle Versorgung gewährleistet ist, es nicht mehr nur um schneller und besser geht?
Gemeinschaft hat offensichtlich etwas Persönlichkeitsentwicklung zu tun, und wir befinden uns an einem Punkt, wo es darum geht, die Masken fallen zu lassen, das schützende Ego aufzugeben. Ken Wilber spricht von dem Übergang von der 5. zur 6. Entwicklungsstufe der Menschheit, von der Rationalen zur integral holistischen Ebene. Um diese neue Stufe entwickeln und aufrecht erhalten zu können, braucht es offensichtlich Gemeinschaft. Über sie können wie wir den heil(igen)enden Geist wieder zurück in unsere Gesellschaft einladen, wirkliche Spiritualität, welche durch die Entwicklung der rationalen Stufen stark verdrängt wurde.